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Interview mit Jochen Schlosser, Adform: Vier Makro-Trends in der Digitalwerbung – ADZINE
ADZINE: Hallo Jochen, du hast vor einigen Monaten deinen Posten als CSO verlassen und fungierst nun als CTO von Adform. Wie hast du dich in deiner neuen Rolle eingefunden? Hat sich viel verändert?
Schlosser: Von der inhaltlichen Aufgabe hat sich kaum etwas verändert, dabei geht es eher um die Außenwahrnehmung. Ich habe vorher auch schon nahezu die komplette Produkt-Roadmap gemacht. Jetzt kümmere ich mich weniger um Gesamtstrategieprozesse, also etwa Fragen wie “Inwiefern skalieren wir jetzt in den USA?”, und trage dafür mehr Verantwortung für das Gesamtprodukt, technologisch und kommerziell. Alle Entscheidungen darüber, was wir dort machen und wie, liegen jetzt bei meinem Team. Somit haben Technologiethemen nun eine klarere Heimat, das lief vorher in Zusammenarbeit mit einem anderen Bereich.
ADZINE: Du bist mittlerweile seit über fünf Jahren bei Adform an Bord. Wie würdest du die Entwicklung des Digital Advertising in dieser Zeit beschreiben? Welche großen Trends konntest du beobachten und wie hat sich das auf eure Arbeit ausgewirkt?
Schlosser: Ich sehe vor allem vier große Trends. Erstens hat sich mit Blick auf die Werbeformate vor allem Video massiv gesteigert. Seit zwei Jahren wird das Wachstum der Digitalwerbung, gerade im offenen Ökosystem außerhalb der Walled Gardens, stark durch Video getrieben. CTV ist die nächste Stufe, die gezündet wird, aber der übergreifende Trend der letzten Jahre war und bleibt damit Video.
Zweitens das Privacy-Thema – das Transparency and Consent Framework hat einen Professionalisierungsgrad erreicht, den es vorher nicht gab. Zwar verstehen immer noch nicht viele Menschen, wie genau es funktioniert, aber es gibt eigentlich keine Firma mehr, die mit dem TCF gar nichts anfangen kann.
Drittens ist Programmatic mittlerweile Standard. 2015 wurde noch darüber diskutiert und viel von Direktbuchungen gesprochen.
ADZINE: …und heute?
Schlosser: Agenturen, die vor fünf Jahren noch gesagt haben, dass sie alles selber machen, sind heute weitgehend auf den programmatischen Plattformen gelandet. Die Deals und kundenspezifischen Setups bauen sie inzwischen also programmatisch, im Kontext von Performance-Advertising schon länger, heute aber sehr weitgehend auch im Bereich Branding.
Der vierte große Trend betrifft die Rolle der Agenturen. Wir arbeiten zwar entgegen den Prognosen von damals nicht weniger mit den Agenturen, dafür aber sehr viel näher mit den Advertisern zusammen. Die Agenturen lassen also immer noch die Maschine laufen, aber gekauft wird sie heute vom Advertiser, mit denen wir in Vertragsbeziehung stehen. Wir sitzen somit öfter zu dritt an einem Tisch. Inhousing auf der anderen Seite ist sicher ein Trend, aber es gibt nur wenige, sehr große, die es wirklich vollumfänglich durchziehen.
ADZINE: Welche Makro-Trends siehst du derzeit in der Digitalwerbung, die uns in den nächsten Jahren beschäftigen werden?
Schlosser: Wir haben als Industrie ja schon einen sehr hohen Reifegrad. In Deutschland gibt es nicht mehr 200, sondern eher fünf relevante DSPs. Die Trends bewegen sich dadurch deutlich langsamer. Trotzdem würde ich hier wieder vier Entwicklungen nennen.
Erstens bleibt Video wie gesagt ein Trend, mit seiner neuen Stufe CTV. Das ist ein riesiges Wachstumsfeld, das momentan noch auf kleiner Flamme köchelt. CTV ist insbesondere spannend, weil dadurch Premium-Ansprüche aus dem klassischen TV an Programmatic Advertising herangetragen werden.
Zweitens wird es um Simplifizierung gehen. Die Komplexität der digitalen Medien wird aufgrund der Fragmentierung in der Mediennutzung immer größer und die Plattformen müssen darauf reagieren, indem sie simplifizieren. Hierfür muss massiv in User Experience und adaptive Workflows investiert werden. Im Ergebnis muss die tägliche Arbeit einfacher werden. Weniger Frustration, mehr Kollaboration zwischen Mensch und Maschine muss am Ende stehen.
ADZINE: Wieso sollte das frustrieren?
Schlosser: Advertiser und Publisher agieren heutzutage verstärkt cross-media. Eine Kampagne kann somit gleichzeitig CTV, Digital-Out-of-Home mit Native und Video Ads bündeln – Wie aber generiere ich über immer mehr Kanäle, mit ihren Besonderheiten, über immer mehr Formate und Targetings einen Workflow, der schnell und sicher zum Ergebnis führt? Dafür müssen die Plattformen in den kommenden Jahren sehr viel investieren.
ADZINE: Das war Trend Nummer zwei.
Schlosser: Drittens wird auch Privacy weiterhin einen starken Einfluss auf die Digitalwerbung haben. Nehmen wir die Privacy Sandboxes – wie skaliere ich hier? Niemand will eine Sandbox-Kampagne aufsetzen. Man will eine Advertising-Kampagne aufsetzen, mit Zielen und entsprechenden KPIs. Welches Protokoll eingesetzt wird, interessiert den Advertiser erstmal nicht. Ich glaube daher, dass die Sandboxes komplett integriert in den großen Plattformen laufen werden, genauso wie alle anderen Wege zum Nutzer, ob mit oder ohne ID.
Viertens ist eine zu klärende Frage, wie offen und in welchem technologischen Konzept Premium-Inventare angeboten werden. Die Walled Gardens wie Facebook und Google, aber auch Tiktok und Co., die gerade aufstreben, geben wenig bis gar keine Inventare – und vor allem auch keine Daten – in das offene programmatische Ökosystem.
ADZINE: Wie reagieren die Publisher darauf?
Schlosser: Die Publisher nehmen das einerseits als Bedrohung wahr, aber andererseits auch als Chance, jetzt zu investieren, um ähnliche Konstrukte in der neuen First-Party-Welt aufzubauen. Dazu gehören etwa eigene Daten auf eigenen Inventaren, mit Targeting auf den offenen Standard-Plattformen. Damit das funktioniert, müssen sie aber immer noch die Skalierung über andere Publisher gewährleisten, um genügend Reichweite bieten zu können. Integrierte Identity-Lösungen, inklusive private IDs zum sicheren Onboarden von Zielgruppen, bieten hier eine große Chance, sich gegenüber Google & Co. neu zu positionieren. Die Art und Weise, wie Publisher Daten in das Ökosystem geben, wird also spannend.
ADZINE: Andere Cookies, mehr Kanäle, bessere Technologie – lässt sich die Zukunft im Advertising so zusammenfassen?
Schlosser: Ja, das würde ich so unterschreiben. Ich würde allerdings eher von besseren, transparenteren Identifiern sprechen, denn die Third-Party-Cookies im Advertising, die wir heute haben und die verschwinden werden, sind keine gute Lösung. Sie funktionieren, aber da geht noch sehr viel mehr. Es wird eine Evolution zu einem sichereren ID-Standard geben. Ich persönlich bin in diesem Kontext gar nicht so glücklich darüber, dass Google diesen Prozess nun zwei Jahre verlangsamt.
ADZINE: Wieso?
Schlosser: Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie die Deadline für das Third-Party-Cookie nur ein halbes Jahr nach hinten verschoben hätten. Google hat nicht verlängert, weil die Industrie das wollte, sondern weil sie selbst nicht fertig waren. Wäre die Sandbox fertig, könnte man anfangen zu bauen. Es ist aber gar nichts fertig und so haben wir wieder zwei Jahre Wischi-Waschi und zu viele lehnen sich erstmal wieder zurück. Ich finde es schade, dass der Druck, neuere, bessere Lösungen zu bauen, nicht höher bleibt. Google hätte zudem bereits früher klarere Deadlines nennen können. Die Kommunikation der Kollegen war hier im letzten Jahr – freundlich ausgedrückt – sicherlich nicht State-of-the-Art.
ADZINE: Alles klar, danke für das Interview, Jochen!