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Psychologin über Flutopfer: „Ein Trauma kann jeden treffen“

Psychologin über Flutopfer: "Ein Trauma kann jeden treffen"

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Psychologin über Flutopfer: „Ein Trauma kann jeden treffen“

Interview

Stand: 28.08.2021 10:26 Uhr

Die Flutkatastrophe war ein Schock – die seelischen Wunden zeigen sich oft erst später. tagesschau.de hat mit der Psychologin Elisabeth Mick gesprochen, die vom ersten Tag an im Ahrtal geholfen hat.

tagesschau.de: Wenn Sie heute an die ersten Tage zurückdenken, an was erinnern Sie sich?

Elisabeth Mick: Die ersten Tage fühlten sich an wie in einem Film und nicht, wie etwas real Erlebtes. Wir Psychologen nennen das Derealisation oder Dissoziation. Das erleben viele Menschen. Man ist getrieben und funktioniert. Je nach Person hält dieser Schockzustand fünf bis 14 Tage an. Die Wenigsten hatten ein normales Zeitempfinden. Alles verschwimmt, das Hungergefühl, das Schlafbedürfnis, selbst das Bedürfnis zur Toilette zu gehen. Es fällt nicht auf, weil der Körper adrenalingesteuert „funktioniert“.

Zur Person
Elisabeth Mick ist psychologische Psychotherapeutin mit einer eigener Praxis in der Nähe des Ahrtals. Sie gehörte zu den Helferinnen und Helfern der ersten Stunde.

tagesschau.de: Wie sah Ihr Einsatz damals aus?

Mick: Ich bin herumgelaufen und habe geguckt, wer mir auffällt. Glasige Augen, starrer Blick, starkes Zittern – das sind Anzeichen. Diesen Personen habe ich Gespräche angeboten. Manche haben das dankbar angenommen, andere sagten, dass es ihnen gerade zu viel ist. Manchmal haben mich auch andere Einsatzkräfte auf jemanden aufmerksam gemacht.

Ich habe vor allem versucht, den Menschen zu helfen, sich zu stabilisieren. Dabei geht es darum, den Betroffenen ein Gefühl von Sicherheit zu geben und ihnen bewusst zu machen, was passiert ist, ist vorbei. Wichtig ist auch die Verbundenheit mit anderen. Das war für viele schwierig, weil das Telefonnetz nicht funktionierte und nicht jeder wusste, sind die Liebsten in Sicherheit.

„Seelenklempner manchmal noch verrufen“

tagesschau.de: Wie hat sich die psychologische Hilfe inzwischen verändert?

Mick: Es gibt noch den psychosozialen Notdienst mit ausgebildeten Notfallseelsorgern. Die laufen durch die Straßen und sprechen Menschen direkt an. Jetzt gibt es aber auch weitere Hilfsangebote, Telefonhotlines für Flutopfer, Kurse für Eltern und Kinder und Sprechstunden vor Ort. Ein Netzwerk www.sofortaktiv.de von 400 Traumatherapeuten bietet zudem kurzfristig Therapieplätze an.

Aus meiner Sicht kann jeder, der sich um psychologische Hilfe bemüht, diese auch bekommen. Allerdings ist sie in einer ländlichen Region wie dem Ahrtal auch stigmatisiert. Der Seelenklempner ist manchmal noch verrufen. Man versucht es lieber allein oder mit einer Flasche Schnaps.

tagesschau.de: Wo kommen plötzlich so viele Traumatherapeutinnen und Therapeuten her, die sonst fehlen?

Mick: Die Therapeuten aus dem Netzwerk sind nicht alle aus der Region, sondern bieten ihre Dienste zum Teil online an. Inzwischen hat die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz zugesagt, die Kosten zu übernehmen. Viel läuft auch ehrenamtlich.

„Das Schlimmste ist Hilflosigkeit“

tagesschau.de: Woran merkt man, dass man selbst oder ein anderer Hilfe braucht?

Mick: Meistens haben Menschen bei sich oder anderen ein Bauchgefühl, dass etwas nicht stimmt. Oder wenn jemand zu lange in einem einzigen Gefühl feststeckt. Dabei ist es egal, ob jemand depressiv ist, Angst hat oder sich keine Pause gönnt. Ein gesunder Verarbeitungsprozess ist wie ein Pendel zwischen aktiven zuversichtlichen Phasen und den traurig zurückgezogenen Momenten.

Das schlimmste Gefühl, das wir erleben, ist Hilflosigkeit. Deshalb versuchen die Menschen, etwas zu tun. Ist das nicht möglich, entwickelt die Seele ein Schuldgefühl. Das ist erstmal leichter auszuhalten als die Hilflosigkeit. Eine Nachbarin sagte mir, sie habe eine Geburtstagsfeier abgesagt, denn sie könne nicht Geburtstag feiern, während es im Ahrtal Menschen gibt, denen es so schlecht geht. Dieses irrationale Schuldgefühl muss wieder überwunden werden.

„Warum die und nicht ich?“

tagesschau.de: Viele Betroffene haben mitbekommen, wie Nachbarn um Hilfe gerufen haben und sie nicht helfen konnten.

Mick: Das war eines der schlimmsten Erlebnisse. Für viele war es der Inbegriff von Ohnmacht und Schrecken und dann das Gefühl der Überlebensschuld: „Warum die und nicht ich?“ Diese Menschen entwickeln oft die klassischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das heißt, in Albträumen oder tagsüber in Flashbacks sehen sie nochmals die Bilder, hören die Stimmen, riechen die Gerüche und haben das Gefühl haben, es passiert nochmals.  

tagesschau.de: Wie können Therapeutinnen und Therapeuten dann helfen?

Mick: Erstmal geht es darum, den Betroffenen zu stabilisieren und schrittweise klar zu machen, die Sache ist vorbei. Danach gilt es, die Erinnerung in einen Gesamtkontext zu integrieren. Solange das Gehirn keine Gelegenheit hat, das Ereignis einzusortieren, kommt es immer wieder zum Flashback. Es ist wie in einer gut sortierten Bücherei, bei der ein Buch unsortiert herumliegt.  

„Wir wissen im Vorfeld nicht, was für die Seele zu viel ist“

tagesschau.de: Der Einsatz war auch für viele professionelle Helfer herausfordernd. Haben Sie die auch begleitet?

Mick: Die meisten professionellen Helfer, Feuerwehr oder Bundeswehrsoldaten, sind der Typ Mensch: „Mir macht das nichts aus.“ Doch Einsatzkräfte, die zum Beispiel Körperteile von Babys finden, erleben Bilder, Töne und Gerüche, die es zu verarbeiten gilt. Dann gibt es auch die sekundäre Traumatisierung. Das heißt, man kann vom bloßen Zuschauen, wie jemand anderes etwas Schweres erlebt, traumatisiert sein.

tagesschau.de: Kann man sich vor Traumatisierung schützen?

Mick: Ich würde sagen nein. Natürlich kann man sich Situationen, etwa beim Leichensuchen, vorher bewusst machen, was könnte passieren und einen Plan machen, was man dann macht. Aber wir wissen im Vorfeld nicht, was für die Seele zu viel ist. Man kann sich kaum darauf vorbereiten, wann die Seele sich überfordert. Nicht jeder, der eine Leiche sieht, wird dadurch traumatisiert.

Zugleich kann jede Traumatisierung, egal wie schlimm sie ist, aufgelöst beziehungsweise integriert werden. Was passiert ist, lässt sich zwar nicht ungeschehen machen, aber man kann lernen, gut damit zu leben, so dass die Erinnerungen Teil der Vergangenheit werden.

„Es braucht Monate, um zu realisieren“

tagesschau.de: In der kommenden Woche findet der Staatsakt für die Flutopfer statt. Wie wichtig ist das?

Mick: Sehr wichtig. Wir Menschen brauchen Rituale, um zu verstehen und den nächsten Schritt gehen zu können. Deshalb gibt es in allen Kulturen und Religionen Trauerrituale. Trauer ist ein Gefühl, das braucht Trost und zwischenmenschliche Nähe. Es ist auch eine Würdigung für die Menschen, die jetzt nicht mehr unter uns sind.

tagesschau.de: Immer wieder ist zu hören, die Aufarbeitung wird noch lange dauern. Sehen Sie das auch so?

Mick: Wir haben die erste Schockphase hinter uns gebraucht. Von außen betrachtet, sind nun alle Häuser entkernt, es beginnt die Trockenphase. Dann wird langsam der Verlust spürbar. Man sagt, dass es bei solchen Katastrophen bis zu drei Monaten dauert, um alles erstmalig zu realisieren. Damit ist noch nicht alles verarbeitet. Es braucht Zeit, Altes hinter sich zu lassen, neue Perspektiven zu entwickeln und zu sortieren, was einem geblieben ist und was nicht. Das kann noch drei bis vier Jahre dauern. Wer das nicht alleine schafft, braucht längerfristig psychologische Begleitung.

Das Interview führte Iris Völlnagel (SWR) für tagesschau.de


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