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Reportage aus Guantanamo: Dunkles Kapitel ohne Ende
Reportage
Stand: 29.08.2021 10:19 Uhr
Das Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba ist für die Biden-Regierung ein Problem: Eigentlich will sie das Lager schließen. Am Montag beginnt dort aber erst mal ein großer Terrorprozess.
Von Julia Kastein, ARD-Studio Washington, zzt. Guantánamo
Morgens um acht Uhr an der Hauptstraße durch den US-Marinestützpunkt in der Bucht von Guantánamo: Aus Lautsprechern scheppert die amerikanische Nationalhymne. Alles stoppt: Ein weißer Pick-up und ein silberfarbener Honda bleiben unvermittelt stehen, ein Jogger nimmt Haltung an. Nur die Moskitos stechen weiter.
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Julia Kastein
ARD-Studio Washington
Auf dem bewaldeten Hügel oberhalb weht die US-Flagge auf Halbmast: Trauerbezeugung für die Opfer des Anschlags von Kabul mit über 170 zivilen Opfern. Auch 13 US-Soldaten starben.
Für viele Amerikaner eine brutale Erinnerung an die Folgen von 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“. Für die 2000 hier stationierten Soldaten ist dieser Krieg seit fast zwei Jahrzehnten Teil des Alltags, wenn auch ein gut versteckter: Nur ein paar Kilometer entfernt, hinter einer Hügelkette und weiträumig abgesperrt, liegt das berüchtigte Gefangenenlager.
Die Flagge vor dem Gebäude der Marines steht auf Halbmast.
Bild: Julia Kastein
Ohne Anklage, ohne Verfahren
Ben Fox sitzt bei brütender, schwüler Hitze auf der schmucklosen Terrasse eines ebenso nüchternen Hotels. Früher war das viergeschössige Gebäude mal ein Soldatenwohnheim. Hinter Fox blitzt das blaue Wasser der Bucht. Der Reporter für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) ist sozusagen Guantanamo-Veteran: Seit 2005 war er Dutzende Male hier. Aber das Lager selbst durfte er seit Jahren nicht mehr besuchen. „Früher hat das Militär regelmäßig Journalisten eingeladen“, erzählt Fox. „Man konnte natürlich nicht die Gefangenen interviewen, aber man konnte sich anschauen, was passiert. Man konnte die Wächter interviewen, das medizinische Personal.“ Doch damit sei es lang vorbei.
Fast 800 detainees wurden über die Jahre in Guantanamo weggesperrt – anfangs in Isolationshaft, in Ketten in Käfigen dem Wetter ausgesetzt, misshandelt, ohne Recht auf einen Anwalt, geschweige denn einen Prozess. Viele der Männer waren vorher in geheimen CIA-Gefängnissen irgendwo auf der Welt gefoltert worden. Die meisten wurden von der Bush-Regierung wieder freigelassen. Sein Nachfolger Barack Obama versprach sogar, das Lager zu schließen und sorgte für bessere Haftbedingungen.
Aber noch immer sitzen 39 Häftlinge dort fest. Manche von ihnen seit mehr als 19 Jahren. Ohne Anklage, ohne Verfahren.
„Wichtiges Kapitel in der amerikanischen Geschichte“
Dabei wirkt der Stützpunkt, den die USA seit 1903 von Kuba gepachtet haben, wie eine amerikanische Kleinstadt mit Karibik-Flair: Palmen und Kakteen, türkisfarbenes Wasser, Iguanas und seltene Blaureiher. Insgesamt 6000 Menschen leben hier. Es gibt eine Schule und einen Supermarkt, Freilichtkinos, Restaurants, einen McDonalds, Sport- und Spielplätze und einen Laden mit Guantanamo-Souvenirs vom T-Shirt bis zur Tasse (Slogan: „Perle der Antillen“).
Guantanamo liegt mitten in der Karibik, auf von Kuba verpachtetem Gebiet.
Bild: Julia Kastein
Und es gibt Militär- und Infrastrukturanlagen. Aber die zu beschreiben ist nicht erlaubt. Für jedes Foto und Video muss eine Genehmigung eingeholt werden – und sämtliche Aufnahmen werden von einem Militärvertreter zensiert. Interviews mit Soldaten oder dem zivilen Personal auf der Insel sind nicht gestattet. Bewegen dürfen sich Journalisten auf dem Stützpunkt nur mit ihrem vom Militär abgestellten Begleiter: „Sorry, geht leider nicht“ ist sein Standardsatz.
Ein bisschen erinnern die Bedingungen an die gleich nebenan auf der Insel, im sozialistischen Kuba. AP-Reporter Fox sagt diplomatisch: „Die Arbeit ist schon eine Herausforderung. Aber es ist auch spannend. Und wichtig. Denn das hier ist einfach ein wichtiges Kapitel in der amerikanischen Geschichte. Manche würden sogar sagen: ein dunkles Kapitel.“
Anklage gegen mutmaßlichen Bin-Laden-Vertrauten
US-Präsident Joe Biden hat – genau wie sein ehemaliger Chef Barack Obama – versprochen, dieses Kapitel zu beenden. Aber passiert ist bislang wenig: Erst ein einziger Häftling durfte in seine Heimat Marokko zurück. Stattdessen laufen in „Camp Justice“ („Camp Gerechtigkeit“), einem abgesperrten Areal direkt an der Küste, die letzten Vorbereitungen für einen neuen großen Terrorprozess. Zum ersten Mal seit zehn Jahren soll am Montag vor dem Militärtribunal formell Anklage gegen drei Männer aus Indonesien und Malaysia erhoben werden.
Das Gerichtsgebäude – eine Art fensterlose Lagerhalle, verborgen hinter einem meterhohen, mit schwarzer Folie und Stacheldraht verstärkten Zaun – wurde eigens für die Prozesse gegen die Guantanamo-Häftlinge gebaut.
Hauptangeklagter ist der Indonesier Encep Nurjaman, „Hambali“ genannt. Die US-Regierung wirft ihm vor, als Chef der Terrororganisation „Jemaah Islamiyah“ nicht nur enger Vertrauter von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden gewesen zu sein und die Errichtung eines radikalislamischen Kalifats in Südostasien geplant zu haben. Der mittlerweile 57-Jährige und zwei Komplizen aus Malaysia sollen beispielsweise auch für die Terrorattacken auf einen Nachtclub in Bali 2002 und ein Hotel in Jakarta ein Jahr später als Drahtzieher beziehungsweise Geldbeschaffer verantwortlich sein. Über 200 Menschen starben, darunter sechs Deutsche.
Seit 2002 gibt es das Gefangenenlager Guantanamo. Es ist Teil eines Marinestützpunktes.
Bild: Julia Kastein
„Es ist ein furchtbares System“
In einem schlichten Konferenzraum in einem der Hotels auf Guantanamo sitzt Jim Hodes, in rotem Hemd und bunter Maske, und wettert gegen seine Regierung: Der Prozess gegen „Hambali“ sei „absurd“, sagt der Anwalt aus Georgia immer wieder. Sein Mandant, der jetzt seit 18 Jahren in der Gewalt der Amerikaner ist, sei so „schlimm gefoltert worden“ wie sonst niemand. Die Regeln des Militärtribunals hätten mit Rechtstaatlichkeit nichts zu tun und seien eine Schande für die USA: „Es ist ein furchtbares System, nur darauf angelegt, die furchtbaren Misshandlungen dieser Menschen zu vertuschen.“
Der Prozess selbst könnte sich Jahre hinziehen, glaubt Anwalt Hodes. Genau wie das andere große Terrorverfahren, gegen die mutmaßlichen Drahtzieher des 11. September. Vor mehr als zehn Jahren wurde die Anklage gegen Chalid Scheich Mohammed und seine angeblichen Komplizen erhoben, aber noch immer hat das Hauptverfahren nicht einmal begonnen.
AP-Reporter Fox jedenfalls wagt keine Prognose, wie lange er noch nach Guantanamo fahren wird.